Im 19. Jahrhundert, einer Zeit der großen gesellschaftlichen Umbrüche, entstanden soziale Probleme neuen Ausmaßes. Das starke Bevölkerungswachstum und die Industrialisierung sorgten für einen Zuzug vom Land in die Städte. Die Epidemien waren im Zeitalter der Cholera von 1831-1892 nicht zu kurieren und stellten eine extreme Zerreißprobe sowohl für die Medizin, als auch für die gesamte Wissenschaft und besonders für die Gesundheitspolitik dar.
Die Mediziner reagierten mit unterschiedlichsten und heute hilflos aussehenden Methoden wie Aderlass, Blutegeltherapie, Verabreichung von Quecksilberchlorid oder Abführ- und Brechmitteln, dem Einsatz von Opium zur Schmerzlinderung und zur Darmberuhigung, aber auch mit der Verordnung von Dampf- oder Wasserbädern oder von Quecksilbersalben.
Der in Krefeld lebende Arzt Dr. Carl August Steifensand versuchte beispielsweise 1848 in seiner Druckschrift “die asiatische Cholera – auf der Grundlage des Malaria Sichthums” [sic!] einen Zusammenhang zwischen Cholera und Malaria zu diskutieren. Malaria ebenso unerforscht (mal’aria = italienisch für schlechte Luft) stand in Verdacht, aus den selben “schlechten Böden” in die Luft überzugehen.
Dr. Steifensand empfahl dann als Heilmittel chininhaltige Rinde des Chinarindenbaumes: “Mein Vorschlag geht demnach dahin, bei vorhandenem oder drohendem Ausbruche der indischen Cholera allen denjenigen Individuen, die an Wechselfieber [Malaria] leiden oder einmal daran gelitten haben, überhaupt allen, die einer Malariadyskrasie verdächtig und daher zur Cholera disponirt sind, das Chinin, etwa zu 3 bis 4 Gran täglich, während der Dauer der Gefahr, als Präservativmittel zu geben.” Quelle: ZB MED
In seinem Aufsatz erwähnt er vielfach den “Boden, auf welchem sie sich entwickelt”, aber auch sogenannte “Contagionisten“: Es bildeten sich in der öffentlichen Diskussion zwei wesentliche Gegenpole heraus: Die Contagionisten vertraten die Meinung, dass Gesunde durch Kranke angesteckt würden, während dem gegenüber die “Bodentheorie” durch die später sogenannten Lokalisten aufgestellt wurde, welche die Meinung vertraten, dass sich die Krankheitsübertragung nicht im Kranken oder aus seinen Ausscheidungen entwickelte, sondern dass die Cholera spontan aus lokalen Bedingungen entstünde, z.B. im Boden einer günstigen Umgebung erst aktiv und dadurch auch erst ansteckend sein würde.
Der bekannteste und wortgewaltigste Vertreter der Lokalisten war der Münchner Arzt und Apotheker Max von Pettenkofer. Pettenkofer war eher ein Chemiker, hatte nie als Arzt praktiziert. Er schloss sein Studium in Gießen unter Justus von Liebig ab. 1847 wurde Pettenkofer zum außerordentlichen Professor für pathologisch-chemische Untersuchungen an die Ludwig-Maximilians-Universität München berufen.
Max von Pettenkofer
1852 bewegte Pettenkofer Justus von Liebig dazu, ebenso zur Universität München LMU zu kommen. Der Naturwissenschaftler wurde von seinem ehemaligen Professor in seiner Bodentheorie bestärkt: Nach den Vorstellungen des Chemikers Justus von Liebig gingen nach dem Tod eines Menschen alle in ihm gebundenen, chemischen Teile in die Erde und alle während Lebzeiten aus der Luft aufgenommenen, chemischen Teile in die Atmosphäre zurück. Er unterschied zwischen faulenden und gärenden sowie fäulnisunfähigen Materien. Krankheiten seien eine Art Verwesung, die schon im lebenden Individuum stattfände. Der Chemiker Liebig lehnte die Hypothese ab, einen belebten Keim, ein Contagium, als die Ursache für Krankheiten anzusehen.
Nachdem im Juli des Jahres 1854 die Cholera auch in München ausgebrochen war, sah Pettenkofer seine “Bodentheorie” dadurch bestätigt, dass die durch die Cholera heimgesuchten Viertel auch in der vorausgegangenen Epidemie 1836/1837 betroffen gewesen seien. Also müsse die Qualität des Bodens an diesem Ort der entscheidende Grund für das Auftreten der Krankheit sein. Im Jahr 1854 waren in den betroffenen Vierteln Münchens mit prekärer Wohnsituation, fehlender Abwasser- und mangelhafter Trinkwasserversorgung die meisten Toten zu beklagen, in ganz Bayern 7300.
Kartierung der Epidemiologie
Zeitgleich schlug die Cholera 1854 in London zu und dort machte der Arzt John Snow eine Entdeckung. Er vermutete, dass Cholera eine durch Wasser verursachte Krankheit war, die sich durch kontaminierte Quellen in London ausbreitete. Er führte mit den Bewohnern und insbesondere den Angehörigen der Todesopfer Interviews. Snow nutzte dann eine Karte und zeichnete alle Krankheitsfälle in die Karte ein.
Seine Vermutung: Die in der Broad Street vorhandene öffentliche Wasserpumpe, die “Broad Street Pump” könnte das Zentrum des Ausbruchs sein, durch das Wasser der Pumpe würde die Krankheit im ganzen Viertel verteilt. Am 7. September 1854 brachte Snow seine Nachforschungen zu den Stadtbeamten und überzeugte sie, den Griff von der Pumpe abzunehmen, was es anschließend unmöglich machte, dort Wasser zu schöpfen.
Seine Erfahrungen in London reichten allerdings nicht aus, den Cholera Pandemien Einhalt zu gebieten. Der Zusammenhang von Wasser und Cholera war eine Vermutung, blieb aber noch lange Jahrzehnte wissenschaftlich unerforscht. Die Karte von Snow gilt jedoch als eines der ersten, wenn nicht sogar als das erste Beispiel für die Kartierung der Epidemiologie.
Weiterführende Quellen:
UCLA University of California, Fielding School of Public Health, Snow
MSU Michigan State University, Matrix, College of social Science
Begründung der Stadthygiene
1864 wurde Max von Pettenkofer der Rektor der Ludwig Maximilian Universität in München und veranlasste die Gründung des weltweit ersten Instituts für Hygiene. Ein Jahr später wurde er der erste deutscher Professor für Hygiene. In München sorgte er in der Folge für die neue und vorbildliche Trinkwasserversorgung und führte die Schwemmkanalisation ein. Dies ist das Verfahren zur Fortleitung der Abwässer, bei dem Abfallstoffe durch das Wasser abgeschwemmt werden. Dadurch verbesserten sich die sanitären Verhältnisse in München entscheidend.
Seine Maßnahmen führten nicht nur in München zu einem Rückgang der Cholera und der Sterblichkeit. In vielen Städten entstand nun ein neues Bewusstsein für die Hygiene und die Sorge um die Gesundheit der städtischen Bevölkerung führte zu großen Investitionen für die Einführung einer fortschrittlichen Trinkwasserversorgung und insbesondere einer sehr kostspieligen Schwemmkanalisation. Obwohl Pettenkofer bei seiner Bodentheorie falsch lag, war seine Arbeit von großer Bedeutung: Er ist einer der wichtigsten Begründer der wissenschaftlichen Hygiene.
Pettenkofers Bodentheorie wurde immer mehr angegriffen, doch der Wissenschaftler ließ Zweifel an seiner Theorie nicht zu. Von Schmerzen gezeichnet isolierte er sich immer mehr und setzte am 10. Februar 1901 seinem Leben ein Ende.